Implizite Verarbeitung - das Gehirn macht mehr, als uns bewusst ist

Implizite Verarbeitung – das Gehirn macht mehr, als uns bewusst ist

Die meisten Menschen sind davon überzeugt, dass jeder ihrer Handlungen eine bewusste Entscheidung vorausgeht. Ein Irrglaube, der sich schnell revidieren lässt.

Ein Beispiel: Unser Gehirn steuert eine Vielzahl von Prozessen, die zu unserem Tod führen würden, müssten wir sie bewusst kontrollieren. Die Atmung, beispielsweise. Unser Gehirn sorgt dafür, dass unser Körper mit ausreichend Sauerstoff versorgt wird – wir sind uns meistens nicht einmal bewusst, dass wir überhaupt atmen. Wir atmen einfach. Erst, wenn uns etwas daran hindert, Luft zu holen – beispielsweise unter Wasser oder wenn uns jemand oder etwas die Kehle zudrückt – werden wir uns der Bedeutung der Atmung schlagartig bewusst. Im Normalfall funktioniert die Atmung aber ohne unser (bewusstes) Zutun.

Gut, werden nun einige sagen, unser Hirn hält monotone Prozesse aufrecht, die dem Überleben dienen. Herzschlag. Atmung. Verdauung. Aber alle wichtigen Informationen, alle neuen Informationen, alle handlungsleitenden Informationen sind mir bewusst.

Doch auch das stimmt nicht.

Implizite Verarbeitung: Wenn das Gehirn zwei Dinge parallel macht

In früheren Beiträgen habe ich schon des öfteren von Prozessen geschrieben, die ganz automatisch und ohne unser bewusstes Zutun ablaufen. Prozesse, die von hoher Relevanz fürs Marketing sind und die ohne Neuromarketing kaum verstanden, geschweige denn gemessen werden können.

Vor ein paar Wochen habe ich beispielsweise eine Studie von Tusche, Bode und Haynes (2010) beschrieben. Die ausführliche Story findet ihr hier. Tusche und Kollegen konnten nachweisen, dass unser Gehirn alle für eine Kaufentscheidung relevanten Informationen auch dann aufnimmt und verarbeitet, wenn es eigentlich, per Instruktion, mit einer ganz anderen Aufgabe beschäftigt ist – ein schönes Beispiel für implizite Verarbeitung.

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Ob wir jemanden sympatisch finden, entscheidet sich vollkommen implizit
Lupo / pixelio.de

Ein anderes Beispiel für implizite Verarbeitung ist die Bewertung von neuen Informationen. Auf dieses Thema bin ich unter dem Stichwort Micro Valence ausführlich eingegangen, bestes Beispiel ist der berühmte erste Eindruck. Dieser bildet sich innerhalb von Sekundenbruchteilen und entscheidet darüber, ob wir eine Person (oder ein Produkt) sympathisch finden oder nicht.

Ganz ohne bewusstes Abwägen, ohne einen einzigen artikulierbaren Gedanken.

Gut, werden jetzt Skeptiker sagen, mag sein, dass diese Prozesse automatisiert ablaufen können. Müssen sie aber nicht, ich kann mir auch ganz bewusst eine Meinung bilden, ganz bewusst entscheiden, ob ich etwas kaufen möchte oder nicht. Implizite Verarbeitung ist damit weder notwendig noch hinreichend für mein Handeln, warum also soll ich mich damit beschäftigen.

Darauf erwidere ich zwei Dinge.

Erstens: Implizite Verarbeitung kann sehr wohl hinreichend für Handlungen sein. Gerade in ökonomischen Kontexten wird ihr Einfluss noch immer unterschätzt.

Zweitens, so schockierend es klingt: Nicht alle impliziten Vorgänge können wir uns willentlich bewusst machen.

Automatisierte Käufe – der Traum jeden Marketers

Die meisten Leser dieses Blogs werden irgendwann in ihrem Leben gelernt haben mit dem Fahrrad zu fahren. Vielleicht existiert auch noch eine vage Erinnerung daran, wie schwierig das anfangs war. Es war mit Stürzen verbunden, mit einigem Schmerz und jeder Menge Frust. Aber schließlich blieben wir im Sattel und kamen sicher von A nach B.

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Knipseline / pixelio.de

Heute denken wir nicht einmal darüber nach, was wir machen, wenn wir aufs Fahrrad steigen. Unser Gehirn beherrscht den Prozess, er läuft vollautomatisch ab, implizit, ohne bewusste Kontrolle. Und genau so, wie wir gelernt haben Fahrrad zu fahren, lernen wir auch, bestimmte Produkte zu kaufen. Bis wir es ganz automatisch tun.

Bestimmte Produkte des täglichen Bedarfs – Brot, Wurst, Käse, Socken, Joghurt, usw. – landen bei fast jedem Einkauf in unserem Wagen. Die ersten paar Male wird noch abgewogen, welches Angebot am ehesten unseren Wünschen entspricht – doch spätestens nach ein paar Wiederholungen landet der gleiche Käse, die gleiche Butter, das gleiche Brot im Korb. In der Fachsprache nennt man das habituierte oder ritualisierte Käufe – der Sechser im Lotto für jeden Warenproduzenten. Grundsätzlich kann jede Kaufhandlung, die wiederholt getätigt wird, auch ritualisiert werden und wird damit nicht mehr hinterfragt. Sie braucht nicht mehr beworben werden. Der Kaufprozess wird zunehmend implizit. Explizite Verarbeitung ist in solchen Fällen sogar hinderlich, denn sie unterbricht die ritualisierte Handlung.

Wirklich unbewusste Verarbeitung: Priming

Atmung und Herzschlag, Bewertungen, ritualisierte Einkäufe – all diese Prozesse laufen grundsätzlich unbewusst ab, können aber bewusst gesteuert werden. Beim sogenannten Priming ist das etwas anderes…

Das menschliche Gehirn ist ein gigantisches Netzwerk, bei dem jedes Neuron mit einer Vielzahl anderer Neurone verknüpft ist – oftmals über 1.000. Wird ein Neuron aktiviert, breitet sich die Aktivität etwas abgeschwächt auch auf alle damit verknüpften Neuronen aus und erhöht so die Wahrscheinlichkeit, dass auch diese die Aktivität weiterleiten – man spricht in diesem Zusammenhang von sich ausbreitender Aktivität (engl.: spreading activation). Werden nun in der Folge Informationen verarbeitet, die ebenfalls innerhalb dieses Netzwerks lokalisiert sind, die also mit der ersten Information auf neuronaler Ebene zusammenhängen, geht diese Verarbeitung schneller und kostet weniger Ressourcen.

Sie ist vorbereitet, oder wie man im Fachjargon sagt: Die Verarbeitung wurde geprimed.

Priming ist nun endlich eine Vorgang, der bewusst nicht steuerbar ist. Wenn wir “Max” lesen, wird “Moritz” mit aktiv. Wenn wir “Heidi” lesen, werden die Netzwerke “Klum” und “Ziegenpeter” ebenfalls voraktiviert. Je nach Lernerfahrung das eine mehr, das andere weniger.

Priming ist für die Werbung so wichtig geworden, dass ich nächste Woche noch einmal ausführlich darauf eingehen werde. Darauf, wie es in der Werbung eingesetzt wird. Darauf, warum es letztlich das Grundprinzip der Werbewirksamkeit ist.

Priming ist der Grund, warum ich überzeugt bin, dass sich Neuromarketing durchsetzen wird.

Why go neuro…?

Befragungstechniken, egal welcher Art, sind immer zu einem gewissen Teil abhängig von bewusster Verarbeitung und haben keinen Zugriff auf implizite Prozesse. Wer sich für implizite Verarbeitung interessiert – und als Werbetreibender sollte man das! – muss Techniken einsetzen, die implizite Verarbeitung erfassen können. Neuromarketing, egal in welcher Form, ist hier der Goldstandard. Neuromarketing berücksichtigt die Funktionsweise des Gehirns, berücksichtigt die implizite Verarbeitung.

Mehr zum Thema implizite Verarbeitung findet man in diesem Buch.

Zusammenfassung: Das Wichtigste in 50 Wörtern

Unser Gehirn ist zu jedem Zeitpunkt mit vielen unterschiedlichen Prozessen beschäftigt. Nur ein Bruchteil davon ist uns bewusst. Implizite Verarbeitung läuft vollautomatisch ab, ist aber trotzdem höchst relevant für unser Verhalten und Werbung und Marketing beeinflussen explizite und explizite Verarbeitung gleichermaßen. Neuromarketing kann helfen, die Beeinflussung impliziter Verarbeitung zu messen.

Referenzen

Tusche, A., Bode, S. & Haynes, J.-D. (2010). Neural responses to unattended products predict later consumer choises. The Journal of Neuroscience, 30(23), 8024-8031.

 

Artikelbild auf der Grundlage eines Fotos von Rainer Sturm / pixelio.de