
Micro Valence oder die Schönheit der Dinge
“Alles ist relativ” wusste schon Albert Einstein und wie ich letzte Woche in meinem Beitrag zum Framing ausgeführt habe, gilt das auch im Marketing. Gut, wenn wir das Bild eines Messers in einer offenen Wunde sehen, ist das für die meisten ein verstörender Anblick, der sehr negativ erlebt wird. Relativ unabhängig vom Kontext. Umgekehrt hat die Darstellung eines Sandstrandes unter Palmen eine offensichtlich sehr positive Wirkung auf die meisten Menschen. Und auch diese Einschätzung wird nahezu unabhängig vom Kontext immer ähnlich ausfallen.
Anders verhält es sich mit beispielsweise einer Gießkanne. Eingebettet in die Strandszene werden wir diese positiver bewerten, als wenn wir erst die Strandszene und dann die Gießkanne sehen. Das ist gemeint, wenn ich sage: Alles ist relativ.
Was aber, wenn ich die Gießkanne nicht mit einer Strandszene (oder einer offenen Wunde) vergleiche, sondern mit einer anderen Gießkanne? Beispielweise, weil sie beide in einem Supermarkt im Regel stehen, unmittelbar nebeneinander. Werden die beiden Gießkannen dann emotional unterschiedlich wahrgenommen? Beides sind ja immerhin eher “neutrale” Objekte, weder positiv noch negativ besetzt…
Micro Valence – Wenn auch “neutrale” Objekte emotional sind
Alles ist relativ. Muss man aus einer Menge an sich neutraler Objekte einen Favoriten auswählen – eine Situation, mit der wir bei jedem Einkauf konfrontiert sind – fehlt oft ein emotionaler Extremwert, der die restlichen Alternativen unattraktiv erscheinen lässt. Minimale Unterschiede gewinnen an Bedeutung und erleichtern die Entscheidung. Im Fachjargon spricht man in diesem Fall von Micro Valence.
Auf das Thema Micro Valence bin ich aufmerksam geworden, weil ich eine interessante Zusammenfassung zum Thema gefunden habe, die sogar frei zugänglich ist. Der Artikel von Sophie Lebrecht und Kollegen (2012) beruft sich dabei vor allem auf Forschungsarbeiten von Moshe Bar, der einige interessante Studien zur Formwahrnehmung durchgeführt hat. Unter anderem hat Herr Bar dazu beigetragen, dass wir nicht nur wissen, dass Objekte mit abgerundeten Formen vor Objekten mit spitzen Kanten bevorzugt werden, sondern auch warum das so ist.
In einer hochrangig publizierten Studie untersuchten Bar und Neta (2007), ob die Abneigung gegenüber scharfkantigen Formen eventuell mit einer unbewussten Wahrnehmung einer Bedrohung zusammenhängt. Immerhin sind nahezu alle gefährlichen Objekte (z.B. Klingen) scharfkantig und spitz. Sie präsentierten Versuchspersonen Abbildungen verschiedener scharf- und weichkantiger Formen, beispielsweise Alltagsgegenstände (Kerzen, Teller) oder oder auch nur sinnlose Farbverläufe, und erfassten währenddessen mittels fMRT die Hirnaktivität. Tatsächlich konnten sie erhöhte Aktivität in der beidseitigen Amygdala nachweisen, einer Struktur, die im emotionalen Erleben eine entscheidende Rolle spielt, unter anderem beim Erleben von Angst. In einem Nachfolgeexperiment wurde zudem sichergestellt, dass die Aktivität in der Amygdala tatsächlich im Zusammenhang mit wahrgenommener Bedrohung steht. Direkt danach gefragt wurden die scharfkantigen Bilder als signifikant bedrohlicher eingeschätzt als Abbildungen von weichkantigen Objekten – ein klarer Hinweis auf Micro Valence und einen engen Bezug zur menschlichen Emotionswelt.
Was wir aus Micro Valences lernen können
Ich glaube ich habe es irgendwo schon einmal erwähnt, aber das menschliche Gehirn schreibt nahezu jedem wahrgenommenen Objekt einen emotionalen Wert zu – auch dann, wenn das Objekt nicht offensichtlich emotional relevant ist. Micro Valence ist quasi eine Eigenschaft von Objekten – von Bildern, Texten, Headlines, Wörtern, Farben, Logos, Markennamen, … Alle diese Elemente können tendenziell positiv oder negativ wirken und damit einen Einfluss auf Kaufentscheidungen entwickeln.
Wer in Kontakt mit seinen Kunden tritt – auf welche Weise auch immer – sollte sich bewusst sein, dass jeder Kontaktversuch eine emotionale Botschaft in Form von Micro Valence aussendet. Wenn man es schon nicht schafft, auf Makroebene emotional zu überzeugen (siehe zum Beispiel hier), sollte wenigsten die Mikro Valence stimmen…
Zusammenfassung: Das Wichtigste in 50 Wörtern
“Neutral” gibt es nicht! Im richtigen Kontext sind auch scheinbar belanglose Alltagsgegenstände emotional höchstrelevant, wie die Forschung zu Mikro Valence zeigt. Scharfkantige Formen ohne Funktion schaffen es die fürs Furchterleben notwendigen Hirnbereiche zu aktivieren und werden aufgrund dessen weniger gemocht. Bei der Gestaltung von Kommunikationsprozessen sollte dies berücksichtigt werden.
Referenzen
Bar, M. & Neta, M. (2007). Visual elements of subjective preference modulate amygdala activation. Neuropsychologia, 45, 2191-2200.
Lebrecht, S., Bar, M., Barrett, L. F., & Tarr, M. J. (2012). Micro-valences: perceiving affective valence in everyday objects. Frontiers in Psychology, 3, 1-5.
Beitragsbild auf der Grundlage eines Fotos von I.Friedrich / pixelio.de
Wiedermal ein sehr verständlich und schön geschriebener Artikel.
Gerade die zugrunde liegenden Prozesse finde ich besonders spannend: Warum bevorzugt der eine die gelbe und der andere die grüne Gießkanne…?
Hallo Marty, danke für das Lob.
Micro Valence bezieht sich tatsächlich quasi auf Eigenschaften des Objekts an sich und macht somit über die interindividuellen Unterschiede erstmal keine Aussagen.
Die Studie von Bar und Neta zeigt jedoch, dass der Micro Valence Effekt letzten Endes auf die affektive Verarbeitung zurück geht. Damit liegen meiner Meinung nach interindividuelle Unterschiede vor allem in der generellen affektiven Ausstattung (trait) und der situationalen Befindlichkeit des Konsumenten (state) zum Zeitpunkt der Exposition begründet. Beweisen kann ich das zwar noch nicht, aber es ist in meinen Augen die logischste und wahrscheinlichste Erklärung.
Und mit etwas Glück habe ich in ein paar Monaten die Daten, die meine Hypothese stützen (oder wiederlegen)…
Dazu gibt es dann aber auch einen entsprechenden Beitrag :-)