Mythos Reizüberflutung

Mythos Reizüberflutung

Wir werden jeden Tag mit Tausenden Werbebotschaften konfrontiert, erinnern uns aber nur an einen minimalen Bruchteil. Für Werbetreibende ist das ein großes Problem, denn sie müssen irgendwie dafür sorgen, dass ihre Botschaft aus der Masse heraussticht und dadurch ein Stück vom Kuchen der begrenzten Aufmerksamkeit des Konsumenten abbekommt. Zumindest glauben viele Werbetreibenden das – vor allem dann, wenn sie noch nach dem bekannten AIDA Prinzip arbeiten.

Allerding wissen wir heute, dass der Mensch nicht nach diesem Muster funktioniert. Daher finde ich, dass es an der Zeit ist mit falschen Grundannahmen im Marketing aufzuräumen und den Mythos der Reizüberflutung dorthin zu tun, wo er hingehört: ins Reich der Legenden.

Auf geht’s.

Werbung wirkt nur, wenn sie uns bewusst ist? Falsch!

Weil klassische Marktforschung die Konsumenten gern nach Meinungen und Einschätzungen fragt und weil wir alle davon überzeugt sind, zu jedem Zeitpunkt überlegt und rational zu handeln, gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass Informationen, die uns nicht bewusst sind, auch keinen Einfluss auf uns haben.

Wäre dem so, wäre die viel zitierte Reizüberflutung tatsächlich ein sehr großes Problem – nicht nur in der Werbung. Denn wenn unser Hirn irgendwann anfängt Informationen wahllos zu filtern, wer garantiert uns, dass wir nicht irgendwann die rote Ampel übersehen? Oder das herannahende Auto?

Zum Glück arbeitet das Gehirn anders.

Viele Prozesse, die zu unserer Wahrnehmung und Entscheidungsfindung beitragen, laufen ab, lange bevor wir uns dessen bewusst werden. Sogar so früh, dass eine große Debatte in Gang getreten wurde, ob es soetwas wie einen freien Willen und selbstbestimmtes Handeln überhaupt geben kann.

In der (neuro)wissenschaftlichen Populärliteratur wird an dieser Stelle gern die Metapher des Autopiloten verwendet. Die meiste Arbeit leistet unser Hirn ohne unser bewusstes Zutun, vollautomatisch, schnell und ohne groß nachzudenken. Eben wie ein Flug mit dem Autopiloten, nur dass man in der Ökonomie eher vom System 1 spricht. Erst, wenn etwas Unvorhergesehenes oder eventuell besonders Relevantes passiert, wird der Pilot hinzugezogen und übernimmt das Steuer: Unser Bewusstsein (System 2) springt ein und trifft die Entscheidung.

Aber eben erst dann, wenn der Autopilot die Kontrolle übergibt.

Verlässliche Zahlen, wie viele Prozesse eigentlich unbewusst oder vorbewusst ablaufen, kenne ich nicht. Meistens liest man Werte jenseits der 90%, aber ich glaube das sind alles Schätzungen. Viel wichtiger als eine genaue Angabe ist aber der nachgewiesene Fakt, dass Informationen, die nie in unser Bewusstsein dringen, durchaus wirksamen Einfluss entwickeln.

Auch auf Kaufentscheidungen, wie beispielsweise hier und hier nachgewiesen.

Reizüberflutung bedeutet Stress? Nein.

Ein zweiter oft anzutreffender Irrtum ist die Annahme, dass die Menge der Werbung, mit der wir konfrontiert werden, beim Konsumenten Stress erzeugt. Auch das ist so nicht richtig. Nicht die Menge der Werbung ist entscheidend, sondern die Art der Werbung.

Wie schon oben ausgeführt, hat unser Gehirn durchaus ein Interesse daran, möglichst viele Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Man könnte sogar von einem evolutionären Vorteil reden, denn je mehr ich über meine Umwelt Bescheid weiß, desto eher kann ich in Gefahrensituationen überleben, bzw. meine Ressourcen erweitern.

Grundsätzlich ist viel Information gut. Sie gelangt ja sowieso nicht ins Bewusstsein.

Stress entsteht psychologisch betrachtet genau dann, wenn eine Person den subjektiven Eindruck hat einer Situation nicht gewachsen zu sein – und das ist in Bezug auf Informationsverarbeitung nur dann der Fall, wenn zu viel Information aus System 1 an System 2 übergeben wird. Wenn also ständig unvorhersehbare Dinge passieren, sodass der Pilot unter Druck gerät schnelle Entscheidungen zu treffen (was er nicht gern macht), dann erleben wir Stress.

Und das ist in der Werbung vor allem dann der Fall, wenn krampfhaft versucht wird die (bewusste) Aufmerksamkeit des Konsumenten zu gewinnen. Zum Beispiel durch Lautstärke, Penetranz, harte Schnitte im Video, usw.

Das eigentlich Problem für die Werbung ist dann, dass der Autopilot weiterhin lernt – und diese Stresssituation mit der Marke verknüpft.

Laut ist nur selten gut.

Was die angebliche Reizüberflutung fürs Marketing wirklich bedeutet

Wenn Werbebotschaften trotz Reizüberflutung das Hirn (im Autopiloten) erreichen, bleibt die Frage, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit sie wirken können. Und wiederum ist die Antwort relativ simpel:

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Wofür wird der Kunde sich entscheiden? Welche Wahl trifft der Autopilot?
Kunstart.net / pixelio.de

Werbung entfaltet ihre Wirkung dann am besten, wenn sie für den Autopiloten relevant ist.

Die Aufgabe vom System 1 besteht vor allem darin, unser Überleben im Hier und Jetzt zu sichern. Planerische Aufgaben für die Zukunft sind seine Sache nicht, dafür gibt es ja System 2. Wenn man es als Marketer also schaffen will, Relevanz im Sinne des Autopiloten zu erzeugen, sollten die aktuellen Bedürfnisse des Konsumenten addressiert werden – und diese sind in den allermeisten Fällen emotionaler Natur.

Im Marketing und natürlich auch im Rahmen dieses Blogs wird oft und viel über Emotionen und Emotionalisierung gesprochen. Das liegt daran, dass Emotionen sozusagen die Sprache des Autopiloten sind. Wer System 1 erreichen, es zum Handeln animieren möchte, tut gut daran, die Emotionen des Konsumenten anzusprechen. Dann ist es auch egal, wieviele Reize auf ein Konsumentenhirn einströmen – die meisten werden vom System 1 ohnehin als unrelevant aussortiert. Schafft es aber eine Werbung, den Konsumenten emotional zu erreichen, stehen die Chancen gut, dass sie ihre Wirkung entfaltet.

Das muss das Ziel von Werbung sein.

Erreicht Werbung den Konsumenten auf Basis seiner Emotionen, wird sie die Reizflut durchdringen und wirken. Tut sie es nicht, weil der Konsument gerade in einer anderen Stimmung ist oder ein anderes Bedürfnis hat, ist es aber auch nicht schlimm. Der Autopilot wird sich die Botschaft trotzdem merken und damit erhöhen sich die Chancen einer späteren Wirksamkeit.

Reizüberfutung in dem Sinn, wie oft verwendet, gibt es nicht. Eine Reizflut, die gibt es. Aber die ist kein Problem für unser System 1.

Zusammenfassung: Das Wichtigste in 50 Wörtern

Akute Reizflut ist für unser Gehirn kein Problem – die meisten Informationen werden vom System 1 (Autopilot) auf Relevanz hin vorgefiltert. Eine Reizüberflutung entsteht nur dann, wenn wir mit penetranten Nachrichten bombardiert werden und wir die Informationsmenge nicht kontrollieren können. Solange Werbung aber Emotionen weckt, braucht sie nicht bewusst werden.

 

Artikelbild auf der Grundlage eines Fotos von disegno / pixelio.de