Orbitofrontalkortex: Emotion und relativer Wert

Orbitofrontalkortex: Emotion und relativer Wert

Wenn man sich wie ich für neurowissenschaftliche Studien interessiert, die versuchen die anatomischen Grundlagen von Entscheidungsprozessen zu ergründen, stößt man immer und immer wieder auf eine Struktur, die ganz vorn im Gehirn, unmittelbar oberhalb unserer Augenhöhlen (anatomischer Fachbegriff: orbits) liegt: den sogenannten Orbitofrontalkortex, gern mit OFC abgekürzt. Habe ich beispielsweise schonmal erwähnt, dass Kaufentscheidungen, trotz ihrer Komplexität, vor allem durch unsere Emotionen getrieben werden?

Orbitofrontalkortex

anatomische Lage des Orbitofrontalkortex

Der Grund hierfür ist die zentrale Rolle des Orbitofrontalkortex, dessen Funktion ich schon hier (Alter Wein in neuen Schläuchen) und hier (Sportwagen sind sexy – oder nicht?) kurz erwähnt habe.

Zeit ein bisschen mehr ins Detail zu gehen…

Antonio Damasio: Entscheidungsfindung ohne Emotion

Denkt man als Neurowissenschaftler an den Orbitofrontalkortex, so ist dessen Erforschung eng mit dem Namen Antonio Damasio verknüpft. Dies liegt vor allem an seinem sehr erfolgreichen Buch “Descartes Irrtum”, in dem sich Prof. Damasio der Frage widmet, ob und in welchem Maße Emotionen unser Entscheidungsverhalten beeinflussen. Er geht dabei von der zu seiner Zeit vorherrschenden und auch heute noch immer wieder anzutreffenden Annahme aus, dass sich heißblütig getroffene Entscheidungen – sprich solche, bei denen wir uns von unseren Emotionen leiten lassen – letztendlich fast immer nachteilig auswirken.

Allerdings stellt er ziemlich schnell fest: Diese Annahme ist so nicht richtig. Im Gegenteil.

Phineas Gage GageMillerPhoto2010-02-17 Unretouched Color CroppedAusgangspunkt seines Buches und seiner Überlegungen ist der Fall eines mittlerweile ebenfalls sehr berühmt gewordenen Patienten, Phineas Gage. Zu seinen Lebzeiten war Mr. Gage Vorarbeiter bei einer Eisenbahngesellschaft gewesen und dort u.a. verantwortlich für die Aufsicht und Durchführung verschiedener Sprengarbeiten. Er galt als sehr gewissenhafter, verlässlicher Arbeiter – bis eines Tages, am 13. September 1848, eine Sprengung schief ging und Mr. Gage durch eine Eisenstange, die zum Anbringen der Sprengladungen verwendet wurde (siehe Abbildung rechts), schwer verwundet wurde. Die über einen Meter lange Eisenstange trat durch sein linkes Auge in den Schädel ein, zerstörte dort große Teile des Vorderhirns und verließ den Schädel wieder durch die Schädeldecke. Das bemerkenswerte: Phineas Gage überlebte den Unfall. Seine Genesung ging gemessen an der schwere des Unfalls relativ schnell, bis auf den den Verlust seines linken Auges waren zunächst keine Folgeschäden zu beobachten. Also nahm er die Arbeit alsbald wieder auf.

Mr. Gage blieb nicht sehr lange auf seiner alten Position. Körperlich wie geistig war er zwar absolut in der Lage seinen Aufgaben nachzukommen, was zunächst jedoch niemand bemerkt hatte: Seine Persönlichkeit hatte sich dramatisch geändert. Der Unfall, der ihn große Teile seines Orbitofrontalkortex gekostet hatte, hatte auch dazu geführt, dass Mr. Gage wankelmütig in seinen Entscheidungen geworden war. Er war unstet, unhöflich und selten dazu in der Lage sich angemessen zu verhalten.

Der Unfall und die daraus resultierende Verletzung setzte eine gesellschaftliche Abwärtsspirale in Gang, er starb im Alter von nur 37 Jahren. Was war passiert?

Antonio Damasio (2004) ist der Meinung, dass die Veränderungen in Gages Persönlichkeit eine direkte Folge seines Unfalls, genauer gesagt der Schädigung des Orbitofrontalkortex sind. In Studien an Patienten mit ähnlichen Läsionen fiel ihm auf, dass sie alle eines gemeinsam hatten: Ein abgeflachtes emotionales Erleben. Es schien als würden diese Menschen in ihrem Entscheidungsverhalten nicht mehr abwägen können, welche emotionalen Konsequenzen eine Entscheidung mit sich brächte – auch wenn sie durchaus in der Lage waren, diese zu benennen.

Der Orbitofrontalkortex: Der relative Wert einer Entscheidung

Aufmerksame Leser dieses Blogs werden jetzt vielleicht die funktionale Nähe des Orbitofrontalkortex und des Nucleus Accumbens erkennen – nicht umsonst sind beide Strukturen Teil des sogenannten Belohnungs- oder Belohnungs-Erwartungs-Systems, und zudem sind sie neuroanatomisch eng miteinander verbunden. Dennoch sind sie für leicht unterschiedliche Funktionen zuständig. Etwas vereinfacht könnte man sagen: Der Nucleus Accumbens signalisiert das Ausmaß einer erwarteten Belohnung, während der Orbitofrontalkortex den relativen Wert dieser Belohnung im Vergleich zu anderen Optionen kodiert. Ein Patient mit beschädigtem Orbitofrontalkortex aber intaktem Nucleus Accumbens könnte also wahrscheinlich sagen, dass es für ihn sehr attraktiv sei, einen Sportwagen zu besitzen. Dass es aber bei seinem Einkommen sinnvoller wäre einen Kleinwagen zu kaufen, würde er nicht erkennen – und sich wahrscheinlich existenziell verschulden.

Deswegen spricht man auch von einer Aufsichtsfunktion des Orbitofrontalkortex über den Nucleus Accumbens.

Eine dunkle Stunde der Neurowissenschaft: Lobotomie

Eigentlich hätte man schon lange vor Antonio Damasios Untersuchungen auf die essentielle Funktion des Orbitofrontalkortex aufmerksam werden können, denn in den 30er und 40er Jahren des 20sten Jahrhunderts – ja, das ist gar nicht so lange her – fand eine neurochirurgische Methode Verbreitung, bei der die Verbindung des Frontalhirns zum Rest des Gehirns getrennt wurde. Diese Technik – teilweise bei vollem Bewusstsein der Patienten und durch einen Stich in die oberen Augenhöhlen durchgeführt, wodurch vor allem der Orbitofrontalkortex in Mitleidenschaft gezogen wurde – sollte Schmerzen lindern und affektive Störungen wie beispielsweise Depressionen und Psychosen heilen können. Ihr Name: Lobotomie.

Wie ihr euch vorstellen könnt, war die Lobotomie in gewisser Weise ein voller Erfolg. Emotionen spielten bei den behandelten Patienten auf einmal keine große Rolle mehr – ihr emotionales Erleben flachte ab, ganz wie gewünscht. Aus diesem Grund wurden auch nachweislich über 20.000 Menschen überall auf der Welt lobotomiert, teilweise sogar durch fachlich ungeschultes Personal – schließlich war der Eingriff ja sehr einfach. Es dauerte viel zu langs, bis die negativen Folgen, die auch im Film “Einer flog über das Kuckucksnest” dargestellt werden, dazu führten, dass die Lobotomie nicht mehr angewandt wurde.

Die Lobotomie ist ein dunkles Kapitel der Neurowissenschaft. Aber sie zeigt – auf traurige Weise – die Wichtigkeit des Orbitofrontalkortex.

Zusammenfassung: Das Wichtigste in 50 Wörtern

Der Orbitofrontalkortex ist eine fürs Marketing sehr bedeutsame Hirnstruktur, die direkt über den Augenhöhlen liegt. Starke Aktivität im OFC, so die offizielle Abkürzung, ist ein Zeichen dafür, dass eine Handlungsoption relativ zu den Alternativen attraktiv ist. Aus diesem Grund treffen Menschen mit Schäden im OFC auch so häufig schlechte Entscheidungen.

Referenzen

Damasio, A. (2004). Descartes’ Irrtum: Fühlen, Denken und das Gehirn. Berlin: List Taschenbuch.


Artikelbild auf der Grundlage eines Fotos von Rainer Sturm / pixelio.de