Reverse Inference - Immer wenn es regnet...

Reverse Inference – Immer wenn es regnet…

In der neurokognitiven Grundlagenwissenschaft wurden in der jüngeren Vergangenheit bereits einige Signale entdeckt, die zuverlässig variieren, wenn bestimmte kognitive Prozesse manipuliert werden. Diese Formulierung ist bewusst so gewählt, dass sie eine kausale Richtung beinhaltet: Manipulationen der kognitiven Prozesse ziehen Veränderungen des Signals nach sich – aber nicht zwangsläufig anders herum. Der Schluss vom Signal auf den Prozess ist in den meisten Fällen logisch unzulässig und daher inhaltlich falsch, auch wenn mancher Praktiker das sogenannte reverse inference Problem gern verschweigt.

“Immer wenn es regnet/muss ich an dich denken”, lautet die erste Zeile des Refrains eines relativ bekannten Liedes. Darin wird eine ganz klare kausale Struktur angegeben: Wenn es regnet, denkt der Sänger an eine bestimmte Person. Ist der Umkehrschluss sinnvoll? Also: Immer wenn ich an diese Person denke, regnet es? Höchstwahrscheinlich nicht. Und trotzdem ist dieser Umkehrschluss – die sogenannte reverse inference – weit verbreitet.

Ein Beispiel: Vor einigen Jahren stieß Neuromarketing auf sehr großes Interesse, weil man hoffte einen Kaufknopf im Kopf potenzieller Konsumenten finden zu können. Ein solcher wäre natürlich der Traum eines jeden Verkäufers: Drücke den Kaufknopf, und dein Absatz schnellt in die Höhe. So absurd es klingt, die Hoffnung auf einen Kaufknopf im menschlichen Hirn entbehrt nicht einer gewissen Grundlage. Falsch ist sie dennoch, wie ich gleich zeigen werde.

Nehmen wir an, es gibt einen Werbespot A, nach dessen Ausstrahlung die Verkaufszahlen für ein bestimmtes Produkt in die Höhe geschossen sind. Nach Ausstrahlung von Werbespot B, der für das gleiche Produkt wirbt und sich eigentlich nicht groß von Spot A unterscheidet, bleiben die Absätze hingegen unverändert. Wieso ist das der Fall?

Man könnte beispielseise vermuten, dass die beiden Werbespots die Kaufintention potenzieller Kosumenten unterschiedlich stark beeinflussen. Anders ausgedrückt: Irgendetwas passiert im Gehirn der Konsumenten, woraufhin die Absätze nach Spot A steigen, nach Spot B aber nicht. Einmal geäußert, ist es ein Leichtes diese Annahme zu testen: Man nehme ein paar Probanden, zeige ihnen die beiden Werbespots, und nehme währenddessen das EEG Signal der Probanden auf. Rafal Ohme hat es ja genau so vorgemacht (siehe hier). Wenn sich nun die Signale der beiden Werbespots unterscheiden, hat man einen elektrophysiologischen Indikator für Kaufintention gefunden – oder nicht?

Das erste Problem dieser Logik ist, dass sich die beiden Werbespots einzig und allein in der induzierten Kaufintention unterscheiden dürften, damit der logische Schluss auf einen Indikator der Kaufintention zulässig ist. Dies ist der Grund, warum in der Grundlagenforschung ausschließlich sehr simples, möglichst eindimensionales Stimulusmaterial verwendet wird. Werbematerial ist viel zu komplex, um klare kausale Zusammenhänge zu entdecken – aber darum soll es hier nicht gehen.

Thema dieses Beitrags ist das zweite Problem, das sogenannte reverse inference Problem (für einen ausführlichen Artikel zu diesem Thema, schaut euch Bourgeois-Dironde, 2010 an). Nehmen wir einmal an, es gäbe einen Kaufknopf im Gehirn. Nehmen wir ferner an, dass man im EEG jedes mal, wenn der Kaufknopf aktiv wird, ein bestimmtes Signal entdeckt werden kann. Bedeutet das dann, dass jedes mal, wenn dieses Signal entdeckt wird, die Kaufintention des Konsumenten angesprungen ist?

juli.gänseblümchen / pixelio.de

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Immer wenn es regnet/muss ich an dich denken.

Die Antwort ist simpel: Nein.

Kaufintention geht beispielsweise beinahe zwangsläufig mit einer Annäherungsmotivation einher. Und eine Annäherungsmotivation sagt nichts darüber aus, ob ich das Objekt, dem ich mich nähere, gut finde, oder nicht. Ich kann mich ihm beispielsweise nähern, weil ich es merkwürdig finde, nicht verstehe, und einfach genauer wissen möchte, was es ist – ganz ohne Kaufintention. Das gemessene Signal kann also auf eine durch Kaufintention aufgelöste Annäherungsmotivation zurückzuführen sein – oder auf Annäherungsmotivation ausgelöst durch Neugier, Ärger, Frustration, …

Was bedeutet das fürs Neuromarketing?

Ich habe hier schon mehrfach Studien vorgestellt, die nahelegen, dass erfolgreiche Werbespots und -kampagnen offenbar mit bestimmten neuronalen Signalen einhergehen (nämlich in den Artikeln über die Wichtigkeit kurzer Szenen, über die Möglichkeiten zur Verhaltensvorhersage und über den Einfluss von Zahlen). Für Neuromarketer ist es ein leichtes, neues Werbematerial in Bezug auf diese Signale zu untersuchen und dann denjenigen Spot zu benennen, der diese Signale am stärksten auslöst. Die Frage ist, hilft uns das irgendwie weiter? Oder unterliegen wir einer reverse inference?

Und wieder ist die Antwort simpel: Beides.

Denn ja, bei jedem logischen Schluss von einem Signal auf den zugrundeliegenden Prozess machen wir eine inverse inference. Immer. Und wenn wir nicht wissen, wie die Beziehung in die andere Richtung aussieht, kann das problematisch sein (deswegen ja auch reverse inference Problem). Das Gute ist, man kann – wenn man sich die Mühe macht – ausrechnen, wie wahrscheinlich es ist einen bestimmten Prozess gemessen zu haben, wenn man ein bestimmtes Signal erhält. Und wenn es auch in diese umgekehrte kausale Richtung eine systematische Beziehung gibt, dann ist der Rückschluss vom Signal auf den Prozess mitunter sehr hilfreich.

Gibt es Rückschlüsse/reverse inferences, die eindeutig sind?

Da im Neuromarketing die reverse inference quasi die Grundlage aller Analysen darstellt, haben zumindest diejenigen Neuromarketer, die seriös arbeiten, ein ernsthaftes Interesse daran zu wissen, wie zuverlässig ihr Signal ist. Sie berechnen die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmter Prozess vorliegt, wenn sie ein bestimmtes Signal messen – und in manchen Fällen publizieren sie ihre Ergebnisse, damit andere daraus lernen können. Der berühmte Dan Ariely, beispielsweise, hat ausgerechnet, dass belohnende Stimuli nicht nur Aktivität im Nucleus Accumbens auslösen – eine Struktur, die uns bereits bei meinem Artikel über Preisgestaltung und den Einfluss von Zahlen über den Weg gelaufen ist – sondern dass Aktivität im Nucleus Accumbens darüber hinaus mit nahezu 100%iger Wahrscheinlichkeit Belohnung anzeigt (Ariely & Berns, 2010). Ich kenne nicht wenige Neurowissenschaftler, die daher sagen, wenn keine Aktivität im Nucleus Accumbens nachweisbar ist, ist der Stimulus nicht belohnend. Die Beziehung zwischen Nucleus Accumbens und Belohnung ist aber auch die einzige mir bekannte Beziehung, die nahezu eineindeutig, also in beide Richtungen verlustfrei abbildbar ist.

Ich selbst habe mich ebenfalls schon an einer solchen Analyse versucht, allerdings mit weniger Erfolg als Dan Ariely. Meine Aufmerksamkeit galt der frontalen alpha Asymmetrie, die gern und häufig im Neuromarketing eingesetzt wird, weil sie mit Annäherungsmotivation assoziiert sein soll (siehe z.B. den Vortrag von Rafal Ohme oder seine Studie zur Wichtigkeit kurzer Szenen). Dieser vermutete Zusammenhang besteht laut meinen Berechnungen tatsächlich (siehe Briesemeister, Tamm, Heine & Jacobs, 2013) – er ist statistisch bedeutsam, aber längst nicht so stark, wie im Fall des Nucleus Accumbens.

Zusammenfassung: Das Wichtigste in 50 Wörtern

In der Wissenschaft versucht man nachzuweisen, dass sich zwei Stimuli in einem gegebenen Prozess unterscheiden, indem man Unterschiede im abgeleiteten Signal untersucht. Man schließt vom Prozess auf das Signal. Der Umkehrschluss vom Signal auf den Prozess (reverse inference) ist weit verbreitet, aber logisch unzulässig, sofern er nicht statistisch überprüft wurde.

Referenzen

Ariely, D. & Berns, G. S. (2010). Neuromarketing: The hope and hype of neuroimaging in business. Nature Reviews Neuroscience, 11, 284-292.

Briesemeister, B. B., Tamm, S., Heine, A. & Jacobs, A. M. (2013). Approach the good, withdraw from the bad – A review on frontal alpha asymmetry measures in applied psychological research. Psychology, 4, 261-267.

Bourgeois-Gironde, S. (2010). Is neuroeconomics doomed by the reverse inference fallacy?  Mind & Society, 9(2), 229-249.

 

Artikelbild auf der Basis eines Fotos von Uschi Dreiucker / pixelio.de