The unpredictable consumer - Zielgruppen im Neuromarketing

The unpredictable consumer – Zielgruppen im Neuromarketing

[Videoupdate 02.07.2015] Vor kurzem bin ich erstmalig auf einen Begriff gestoßen, der mich stutzen ließ: the unpredictable consumer, zu Deutsch: der unvorhersehbare Konsument. Damit ist (etwas vereinfacht ausgedrückt) gemeint, dass Konsumenten immer mehr mitreden wollen bei der Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen, dass sie auf die Einhaltung gewisser ethischer Grundsätze achten, wenn sie einkaufen (und diese sogar bezahlen!, man höre und staune), und dass sie nicht mehr einfach hinnehmen, was Unternehmen ihnen bieten, sondern bisweilen Kontra geben, wenn ihnen etwas nicht passt. Stichwort: Shitstorm.

Für viele Unternehmen ist dies ein echtes Problem.

Das Modell eines passiven, brav konsumierenden Verbrauchers, der nur vom angebotenen Produkt überzeugt werden muss, hat ausgedient. Sind moderne Kunden mit dem Angebot nicht zufrieden, suchen sie heutzutage aktiv nach alternativen, vielleicht sogar kostspieligeren Angeboten oder beginnen kurzerhand selbst zu produzieren (DIY). Das Internet macht es möglich. Leider wird diese Aktivität des Konsumenten in den meisten Geschäftsmodellen aber nicht berücksichtigt – der Konsument ist damit unvorhersehbar geworden, ein unpredictable cosumer eben.

Active? Yes. Unpredictable? No.

Als Wissenschaftler bin ich darin ausgebildet worden, Hypothesen aufzustellen, diese an der Wirklichkeit zu überprüfen und – das entsprechende Ergebnis vorausgesetzt – sie wieder zu verwerfen. Genau diesen Prozess machen meiner Meinung nach gerade diejenigen Unternehmen durch, die von einem unpredictable cosumer reden. Ihre Hypothesen darüber, wie Menschen Kaufentscheidungen treffen, entpuppen sich als falsch.

Wie kann es sein, dass ein Mensch sein Mittagessen bei ALDI kauft, aber abends in ein Café geht und für 3,50 einen Kaffee trinkt? Am besten noch mit einem Stück Kuchen dazu, für weitere 4 Euro. Dafür kriegt man bei ALDI einen ganzen Kuchen…

Wie kann es sein, dass Menschen bei der Deutschen Bahn einen Aufpreis bezahlen, damit die Bahn mehr in Ökostrom investiert? Sie kommen ja nicht schneller an, fahren nicht erster Klasse, kriegen keinen Snack gereicht…

726290_web_R_K_by_Dr. Stephan Barth_pixelio.de

Nur weil jemand Frischobst und Konserven kauft, wird er nicht zum unpredictable consumer!
Dr. Stephan Barth / pixelio.de

Die Lösung all dieser Probleme liegt in einem einfachen Missverständnis. Wenn wir von Zielgruppen reden, nehmen wir an, dass es zwischen diesen Zielgruppen zeitlich stabile Unterschiede gibt. Etwas überspitzt: Ein Mann verhält sich grundsätzlich immer (zumindest minimal) anders, als es von einer Frau zu erwarten wäre1.

Und das ist einfach nicht der Fall.

Dass Verhalten damit aber nicht willkürlich, der Konsument nicht zu einem unpredictable consumer wird, sollte eigentlich klar sein. Einzig das Modell, das wir brauchen, um Konsumentenverhalten vorherzusagen, wird ein wenig komplexer. Wie ein solches Modell aussehen könnte, darauf will ich im Folgenden eingehen.

Von starren Zielgruppen hin zu veränderlichen Motiven

Wenn man in Deutschland von Neuromarketing spricht, denken viele als erstes an das Limbic System von Hans-Georg Häusel. Dieser Ansatz stellt insgesamt sieben Typen vor, die durch unterschiedliche emotionale Werte angesprochen werden – beispielsweise den Hedonisten, den Disziplinierten, den Performer, usw. Dass Neuromarketing viel mehr ist, als der Limbic Ansatz, habe ich im Rahmen dieses Weblogs hoffentlich zur Genüge dargestellt. Deswegen werde ich jetzt nicht weiter darauf eingehen. Die folgenden Videos geben aber einen schönen Überblick.

Content not available.
Please allow cookies by clicking Accept on the banner

Dass Limbic Types gern als stabile, unveränderliche und unvariable Persönlichkeitsprofile von Konsumentengruppen gesehen werden, ist jedoch eine (fehl)Interpretation, der es zu begegnen gilt.

Was viele nicht wissen, ist, dass der Limbic Ansatz letzten Endes nichts weiter als eine Vereinfachung und Verdichtung des Zürcher Modells der Sozialen Motivation (ZMSM) von Norbert Bischof ist. Ich kann und möchte an dieser Stelle nicht allzusehr ins Detail gehen, dazu ist das ZMSM zu komplex. Mir ist es aber wichtig klarzustellen, dass ein Mensch, der, sagen wir, tendenziell dazu neigt neue Erfahrungen zu suchen (hoher Soll-Wert im Erregungssystem des ZMSM, bzw. starkes Stimulanzbedürfnis im Limbic System) nicht immer und nur durch neue Reize angesprochen wird. Auch ein solcher “offener” Typ kann mit Nestwärme gelockt oder durch einen Bungeesprung abgeschreckt werden.

Content not available.
Please allow cookies by clicking Accept on the banner

Die Persönlichkeitsstruktur ist ein Faktor, aber eben nur ein Faktor von vielen.

Das ZMSM geht davon aus, dass soziales Annäherungsverhalten (ja, genau das Verhalten, das auch Kaufentscheidungen zugrunde liegt und das wir im Neuromarketing versuchen zu messen) von mindestens drei Faktoren abhängt. Erstens: Den Eigenschaften des Objektes, dem man sich annähern soll. Ist dieses für die Person beispielsweise nicht relevant, wird es auch nicht weiter beachtet. Zweitens: Der momentanen Verfassung der Person. Das Bedürfnis nach neuen Reizen beispielsweise kann im Laufe des Tages enorm schwanken. Langweilen wir uns zu Tode, weil wir in der UBahn sitzen, ist auch ein schlechter Sänger eine willkommene Abwechslung. Ein schlechter Sänger im Musical, wo wir Abwechslungsreichtum erwarten, ist hingegen ein no-go. Und drittens: Der Persönlichkeit, wobei diese im Endeffekt nur den Rahmen vorgibt, in welchem die aktuelle Stimmungslage schwanken kann.

Wenn man sich also fragt, wie man seine Zielgruppe definieren soll, dann sollte man nicht primär nach Persönlichkeitseigenschaften suchen, sondern vor allem nach Faktoren, die dazu führen die Stimmung des Konsumenten zum  Zeitpunkt des Werbekontakts oder des Einkaufs in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Was bedeutet das ZMSM für den unpredictable consumer?

Nimmt man ein dynamisches Konsumentenmodell an, werden scheinbar irrationale Verhaltensweisen auf einmal erklärlich. Einen Zusatzbetrag zahlen, obwohl die Bahn dadurch nicht schneller wird?

Muss sie auch nicht, aber mein ökologisches Gewissen (Sicherheitssystem) wird entlastet und ich fühle mich besser.

Morgens sparen, abends schlemmen?

Klar, wenn ich den ganzen Tag über geackert habe, muss ich mich abends auch mal mit etwas Besonderem belohnen. Wichtig ist nicht (nur) die Person, wichtig ist auch, was in der Zwischenzeit passiert ist…

Sowohl das Konzept einer starren Zielgruppe als auch die Annahme eines unpredictable consumers gehören meiner Meinung nach in das Reich der Legende. Wichtig sind komplexe, dynamische Modelle, die es ermöglichen tatsächliches Verhalten konkret vorherzusagen.

Denn: Niemanden ist geholfen, wenn das Modell zwar einfach, aber falsch ist.

Zusammenfassung: Das wichtigste in 50 Wörtern

Die Annahme eines unpredictable consumer ist Unsinn. Nicht Konsumenten sind unvorhersehbar geworden, die Modelle, anhand derer wir Zielgruppen definieren, sind zu simpel. Ein Alternativmodell kann das Zürcher Modell der Sozialen Motivation sein. Hier wird Verhalten von mindestens drei Prozessen bestimmt: Der Persönlichkeit, aber auch dem Reiz und der aktuellen Stimmungslage.

Fußnote

1 Ich hätte auch “Bayern und Berliner” oder “Teenager und Senioren” als Beispiel nehmen können. Das Gesagte gilt für jede Form der Zielgruppeneinteilung.

 

Artikelbild auf der Grundlage eines Fotos von Gebhart Gruber / pixelio.de